Der Legende nach hat Notker Balbulus die Gattung der Sequenz begründet. Die historischen Indizien sprechen gegen die Vorreiter-Rolle des St Galler Mönches; vielmehr scheinen sich die Anfänge westlich des Rheines abgespielt zu haben. Doch alles der Reihe nach.
Die Alleluja-Gesänge der Messe schließen mit einer langen Tonkette über dem letzten Vokal; man nannte sie auch Jubilus. Schon der Kirchenlehrer Augustinus sah in ihnen den Ausdruck der Sprachlosigkeit vor der Größe Gottes. An Festtagen wurde der Jubilus bei der Wiederholung des Alleluja erheblich erweitert. In Quellen des altrömischen und ambrosianischen Chorals ist diese Praxis schriftlich festgehalten.
Bereits für diese untextierten Gebilde wurde der Ausdruck „Sequenz“ (lat. sequentia = „Aufeinanderfolge“) verwendet, weil verschiedene Glieder (Sequela) sowohl auf das Alleluja als auch aufeinander folgen. Wie man im obigen Beispiel sehen kann, werden in den langen Melodien verschiedene Elemente wiederholt, doch es wird auch variiert. Es war schwer, diese Melodien im Kopf zu behalten, worüber auch Notker Balbulus klagte. Zu den wortlosen Girlanden dachten sich die Sänger zunächst Worte als Gedächtnisstütze aus; später ging man dazu über, syllabische Verse zu dichten, die auch des wirklichen Vortrages würdig sind.
Somit entstand das, was wir heute eigentlich unter einer Sequenz verstehen (im 9. Jahrhundert bezeichnete man die Textierungen als Prosae). In den folgenden Jahrhunderten wurden Sequenzen vermehrt unabhängig von Jubilus-Melodien komponiert, und als eigenständige Gesänge nach dem Alleluja aufgeführt. Die Texte wurden zunehmend mit regelmäßigen Metren und einfachen Reimschemata verfasst. Dies entsprach dem mittelalterlichen Geschmack und hob sich von der reimlosen Dichtung der Hymnen ab.
Am Beispiel der Pfingstsequenz „Veni Sancte Spiritus“ wollen wir die Bauprinzipien dieser Gesangsgattung betrachten. Der Text besteht aus zehn Strophen zu je drei siebensilbigen Versen. Die Enden aller Strophen sind über den Reim -ium miteinander verknüpft; während die beiden ersten Verse jeder Strophe untereinander einen Paarreim bilden.
Musikalisch werden jeweils zwei Strophen auf ein melodischen Modell gesungen. Im Unterschied zu Sequenzen wie „Dies Irae“ taucht bei der Pfingstsequenz keines dieser Modelle ein weiteres Mal nach der direkten Wiederholung wieder auf. Die Melodien der Sequenzen arbeiten mit prägnanten Motiven und heben sich vom unregelmäßigen Bau der älteren Gesänge ab.
Der Text der Pfingstsequenz wird Stephen Langton (1150–1228) zugeschrieben, als Ursprung der Melodie wird hingegen Paris um 1200 angenommen. Damit steht diese zeitlich und räumlich in direkter Nähe zum Notre-Dame-Stil der Polyphonie. Wir wissen nicht, ob für die Sequenz als Teil der „Musica Plana“ (dem einstimmigen liturgischen Gesang) die gleichen rhythmischen Voraussetzungen wie für die mehrstimmigen Kompositionen galten.
Sollte dies jedoch der Fall gewesen sein, böte sich für den trochäischen Text der Pfingstsequenz eine Ausführung im Sinne des ersten rhythmischen Modus gemäß der modalrhythmischen Theorie an: Das bedeutet, dass die metrisch langen Silben doppelt so lang wie die kurzen gesungen werden. Fallen auf eine lange Silbe mehrere Töne, so wird der lange Ton in mehrere kurze zerlegt, wobei die schnellsten Notenwerte an den Anfang gestellt werden. Auf diesem Wege gelangen wir zu einer Rhythmisierung, die jener der deutschen Kontrafaktur im neuen Gotteslob (Nr. 344) entspricht.
(M. R.)