Es gibt kaum eine unangenehmere Situation als diese: Man ist unterwegs in der Stadt und denkt an nichts Böses. Urplötzlich macht sich ein allzu menschlicher Drang bemerkbar. Man schaut sich um. Kein Örtchen weit und breit. Ob die Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Toilette zur Verfügung stellt, ohne dass man sich durch den Spontankauf einer Brezel den Platz am Porzellan erstreiten muss? Zu riskant, es pressiert! Ob der Supermarkt um die Ecke eine Kundentoilette anbietet? Möglich, aber nicht sicher! Oder vielleicht ist ja das Restaurant dort drüben so gnädig? Für Diskussionen keine Zeit… Doch was nun?
Stellen Sie sich einmal vor, dass in dieser Situation eine Person mit einem Eimer und einem Mantel auf Sie zu käme und Ihnen für ein paar Münzen ihre Dienste anböte. Eingehüllt in den Mantel und bis auf den Kopf vor der Öffentlichkeit verborgen, könnten Sie nun endlich das tun, nach was Ihnen so dringlich der Sinn steht. Wäre das nicht die Lösung? Vor etwa 200 Jahren hätten Sie diese Frage vermutlich bejaht. Aber woher kamen diese ominösen, sogenannten „Abtrittanbieter:innen“? Weshalb brauchte man sie? Und warum war es scheinbar nicht peinlich, sich mitten auf dem gut besuchten Marktplatz auf einen Eimer zu setzen?
Bis ins 18. Jahrhundert hinein hätte sich ein solches Problem vermutlich gar nicht erst gestellt, wäre man damals schlichtweg in eine Seitengasse abgebogen und hätte dort ganz unverfroren getan, was die Natur dem Menschen abverlangt. Ob Latrinen, Misthaufen oder Gestrüpp – die Optionen waren mannigfaltig, auf dem Land natürlich noch mehr als in der Stadt.
Zustände wie im alten Rom? Mitnichten! Denn in den antiken römischen Städten hatte man ja bekanntermaßen öffentliche Bedürfnisanstalten (lat. latrina oder forica), die ihresgleichen bis ins 19. Jahrhundert suchten. Zumeist verfügten die römischen Latrinen sogar über einen Anschluss an ein Abwassernetz, von dem in Europa jahrhundertelang nicht einmal zu träumen war. Bis weit in die Neuzeit hinein blieben die öffentlichen Toiletten der Antike unübertroffen.
Selbst im berühmten Schloss Versailles des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., dem absolutistischen Trendsetter schlechthin, war es unter den Adligen lange Zeit Gang und Gäbe, sich ungeniert in den Gängen oder Gärten zu erleichtern. So verwundert es nicht, dass es mancherorts bereits als Fortschritt empfunden wurde, dass die im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Nachttöpfe nicht mehr einfach aus dem Fenster entleert wurden, sondern am Morgen vor die Tür gestellt und per Fahrdienst abgeholt wurden. Die wachsenden Städte der Frühen Neuzeit waren mit Sicherheit ein Geruchserlebnis…
Doch warum brach man um 1800 mit diesen (Un-)Gepflogenheiten? Das wachsende Bewusstsein für Hygiene und die Erkenntnisse über die gesundheitlichen Risiken, die mit den menschlichen Ausscheidungen einhergehen, bewirkten starke Veränderungen im Umgang mit denselben. Sie wurden für die immer enger werdenden Städte zum Problem! Zudem entwickelte sich, besonders im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen jener Zeit, eine zunehmende Tabuisierung menschlicher Bedürfnisse und Triebe. Ein wachsendes Schamgefühl und eine Verlagerung dieser Themen in eine neu entstehende Privatsphäre waren das Ergebnis.
Nicht nur, dass das öffentliche Verrichten der Notdurft primär in den Städten im Sinne der Seuchenprävention verboten wurde – man wollte diese Geschäfte auch gar nicht mehr so offensichtlich vor den Augen anderer abwickeln. Doch was war die Alternative? Zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und der Mitte des 19. Jahrhunderts verfügten die mitteleuropäischen Städte nur in wenigen Ausnahmefällen über (funktionierende) Abwassersysteme. Toiletten mit Wasserspülung setzten sich in Deutschland sogar erst gegen Ende des Jahrhunderts durch. Und jener Zeitraum war die Hochphase der Abtrittanbieter:innen.
Diese mobilen Bedürfnisanstalten auf zwei Beinen stießen in eine einmalige Marktlücke. Ihre beiden Eimer wurden mit Ketten an einem Joch befestigt, das sie über der Schulter trugen. Zudem waren diese mit Deckeln ausgestattet, um den Gestank zumindest einigermaßen einzudämmen. Die Mäntel und Umhänge waren meist aus Leder und teilweise so groß, dass auch beide Eimer zeitgleich besetzt und verdeckt werden konnten. Diese besonderen Dienstleister:innen wanderten auf Märkten oder Messen umher, verschafften den Menschen Erleichterung und ein für die damalige Zeit ausreichendes Mindestmaß an Privatsphäre. Sie wurden allerdings nicht nur für ihre Dienste bezahlt, sondern konnten gesammelten Urin an Gerbereien oder für die Salpeterherstellung verkaufen. Dieses – im wahrsten Sinne des Wortes – doppelte Geschäft verschwand letztlich mit dem Aufkommen der Kanalisation und der Etablierung von öffentlichen Toiletten.
Wenn Sie nächstes Mal nach einer ebensolchen suchen oder mit einer (oftmals blauen) mobilen Toilettenkabine Vorlieb nehmen müssen, denken Sie vielleicht kurz an Mantel und Eimer. Möglicherweise macht das die Situation ein wenig erträglicher…
Quellen und Literatur:
Furrer, Daniel: Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens, Darmstadt 2004.
Neudecker, Richard: Die Pracht der Latrine. Zum Wandel öffentlicher Bedürfnisanstalten in der kaiserzeitlichen Stadt (= Studien zur antiken Stadt, Bd. 1), München 1994.
Palla, Rudi: Das Lexikon der untergegangenen Berufe, Frankfurt am Main 1998,
Vieser, Michaela: Von Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und Fischbeinreißern, München 2010.
(A. M.)