Im Stadtmarketing ist er eine feste Größe. Unzählige Menschen erkunden mit ihm Städte in der Dunkelheit. Sein Auftreten mit Hut, Hellebarde und Laterne ist längst kultiger Publikumsmagnet: Natürlich geht es um den Nachtwächter. Doch war dieser Mann schon immer so beliebt? Hätte man früher auch Geld bezahlt, um mit ihm eine Runde durch den Ort zu drehen? Und warum war er früher viel wichtiger für Städte und Dörfer?
„Obacht! Heb‘ die Füße, dort liegt ein Nachtwächter ohne Knochen!“ Dieser humorvolle Hinweis darauf, dass dort Mist auf der Straße liegt, in den man tunlichst nicht hineintreten soll, gibt eine klare Antwort auf die ersten beiden Fragen: Nein! Der Nachtwächter war nicht beliebt und Geld hätte man für seine Begleitung auf einer Runde durch den Ort auch nicht bezahlt. Im Gegenteil, man hätte mit ihm nicht einmal abgemalt werden wollen. In der Dorf- oder Stadthierarchie stand der Nachtwächter ganz weit unten. Doch warum war er dennoch unerlässlicher Bestandteil der Gesellschaft?
Kurz gesagt: Man konnte nicht mit, aber vor allem nicht ohne ihn. Der Nachtwächter war der unrühmliche Allrounder eines Ortes. Er erfüllte die Aufgaben, die sonst keiner machen wollte, und hatte vom Mittelalter bis teilweise sogar ins 20. Jahrhundert die verschiedensten Funktionen. Diese veränderten sich im Laufe der Zeit und unterschieden sich von Stadt zu Land, teilweise sogar von Ort zu Ort.
Die wohl allerorten wichtigste Aufgabe war die der nächtlichen Sicherheit. Wie der Name schon sagt, war der Nachtwächter vor allem tätig, wenn der Rest schlief. Er sorgte nachts für Recht und Ordnung, setzte zum Beispiel nächtliche Ausgangssperren durch und so manchen Trunkenbold fest. Ferner war er für den Feuerschutz zuständig. Was heute gerne als Hellebarde (Speerwaffe) dargestellt wird, war in vielen Fällen primär ein Feuerhaken. Feuer war in Zeiten von Strohbedachungen eine der größten Gefahren. Brach ein Feuer aus, stand in kürzester Zeit der ganze Ort in Flammen. Mit dem Feuerhaken konnte das größte Unglück verhindert werden, indem man mit ihm das brennende Stroh vom Dach reißen konnte.
Eine weitere, auf andere Art düstere Aufgabe war die des Totengräbers. Denn in Ermangelung einer eigens dafür verantwortlichen Person war der Nachtwächter vielerorts auch gleichzeitig für Beerdigungen zuständig. Er hob dabei allerdings nicht nur das Grab aus, sondern war meist auch Teil der Totenwache.
Früher als in ländlichen Regionen spielte in Städten die Uhrzeit eine wichtige Rolle des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Blick zum Kirchturm, dessen Uhr häufig die einzige Möglichkeit der Zeitauskunft war, wurde in wachsenden und enger werdenden Orten verstellt. Praktisch, dass man ohnehin jemanden hatte, der durch die Gassen streifte. So übernahm der Nachtwächter oft auch die Funktion einer wandelnden Uhr, was noch heute fester Bestandteil seiner Darstellung ist. Im gleichen Stil nutzte man ihn überdies auch für Bekanntmachungen oder die Verbreitung von Nachrichten.
Bevor zwei letzte Aufgaben des Nachtwächters vorgestellt werden, ist vielleicht die Frage nach dem Verdienst interessant. Denn er arbeitete weder ehrenamtlich, noch wurde er für seine Rundgänge vom Stadtmarketing vergütet. Vielmehr erhielt er neben einem, wenn überhaupt minimalen, monetären Verdienst nur Kost und Logis. Zumeist gab es ein Zimmer, eine kleine Wohnung oder ein Nachtwächterhaus am Rande des Dorfes. Im ländlichen Raum hatte die Lage am Ortsrand einen praktischen Nutzen: Nicht selten war der Nachtwächter nämlich für den Ziegenbock des Dorfes zuständig, der zum Decken der Ziegen eingesetzt wurde. Aufgrund des nicht unerheblichen Gestanks war der Bock dort beim Nachtwächter gut aufgehoben. Generell übernahm er auch andere Aufgaben der Tierhaltung bzw. -verpflegung und fungierte z. B. als Schweinehirt, da Schweine in vielen ländlichen Regionen bis ins 19. Jahrhundert tagsüber auf der Waldweide gehalten wurden.
Anhand dieser wichtigen, aber unbeliebten Aufgaben lässt sich die gesellschaftliche Stellung des Nachtwächters gut ablesen. Der Beruf wurde bis auf wenige Ausnahmen von Menschen niederen Standes ausgeübt, deren Perspektiven zu schlecht waren, als sich über ihr Ansehen Gedanken zu machen. Denn auch wenn seine Aufgaben dem Nachtwächter nicht zur Ehre gereichten, sicherten sie ihm das Überleben. Und wenn er auch nicht angesehen war, so war er doch ein sehr wichtiger und präsenter Bestandteil der Gesellschaft.
Leider neigt manche gegenwärtige Darstellung zu einem verklärten und romantisierten Bild des Nachtwächters. Die meist dramatischen Lebensumstände treten gerne hinter lustigen Sprüchen, lauten Zeitansagen und der romantisch-abendlichen Atmosphäre zurück. Also „hört Ihr Leut‘ und lasst Euch sagen“: Denkt stets ans Füße heben und daran, wie sehr sich manch ein Nachtwächter wundern würde, dass man nach all der Zeit gerne in seine Fußstapfen tritt und begeisterte Menschen durch die nächtliche Stadt führt.
Quellen:
Bahn, Peter: Hört Ihr Leut‘ und lasst Euch sagen … Die Geschichte der Türmer und Nachtwächter. Begleitbuch zur Ausstellung des Museums im Schweizer Hof, Bretten 2008.
Beckmann, Johann: Nachtwächter, in: Ders.: Beyträge zur Geschichte der Erfindungen, Bd. 4, Leipzig 1795, S. 119-140.
Grimm Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB, abgerufen am 20.02.2021: Nachtwächter, Bd. 13, Sp. 222.
Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Hamburg 1955-1970.
Strasser, Ernst A. C.: Von der Pflicht und Schuldigkeit der Thürmer, oder Thurm-Wächter, und der Nachtwächter und Latern-Anbrenner, in: Ders.: Von den zweckmäßigen Brand-, Lösch- und Rettungs-Anstalten, Hamburg 1798, S. 71-73.
(A.M.)