Im Tonio Kröger bin ich auf ein paar seltsam berührende Worte gestoßen: „Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen“.
Es sind Worte, die mich an meine Jugend erinnern, und gemeinsam mit ihnen weht ein Hauch von Sehnsucht durch mein Haus, ein Frühlingsduft von stiller Trauer, an den ich mich kaum erinnern kann.
Er gemahnt mich an Momente der Sehnsucht, an Nächte, in denen ich ruhelos einsam lag, denn die Frau, die ich zu lieben meinte, war nicht bei mir.
Kennt ihr diesen Schmerz, alleine zu liegen, immer und immer wieder? Und die, die für euch zählt, ist nicht mehr da?
Denn für sie gibt es da draußen eine ganze Welt zu erobern, eine Welt voll Musik und Tanz und wildem Klang und Lärm. Was zählen dagegen schon eure Träume von Einsamkeit und Liebe?
Das Gedicht erinnert mich daran, wie ich immer abseits stand. Wie ich das bunte Treiben der Menge aus der Ferne besah, voller Sehnsucht und Schmerz und doch unfähig, zu den anderen zu gehen.
Vielleicht ist das einfach das Los jeder begabten Jugend und es geht vielen Menschen wie mir, ich weiß es nicht.
Ich jedenfalls blieb immer allein, einsam allein in meinem Winkel, bis der Wunsch schlussendlich verging. Bis mein Herz einen Riss bekam und ich seltsam fröhlich wurde.
Denn irgendwann wollte ich nur noch meinen eigenen Herzschlag spüren, meine wilde Sehnsucht und den Schmerz. Und ich wollte immer mehr und mehr von dieser Einsamkeit, die das Herz so kalt macht und den Geist so frei.
„Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.“
Heute weiß ich, dass ein Dichter diese Zeilen schrieb, vor mehr als hundert Jahren schon.
Hundert Jahre! Ist es nicht seltsam, wie ein paar Worte, vor Generationen aufs Papier geworfen, durch die Zeit hindurch nach unseren Herzen greifen? Um uns aus der Bahn zu werfen, hinaus, in eine andere Welt?
Auch die Novelle „Immensee“ handelt im Innersten von diesen Zeilen.
Ein alter Mann sitzt in seinem Zimmer und wartet auf den Abend. Als der letzte Lichtstrahl das Bildnis einer Frau berührt, wird er aus seinem Leben heraus direkt in das Land seiner Erinnerung geworfen und er denkt an das Mädchen Lisbeth, das einmal war und die für ihn bestimmt schien.
Er erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit, an die Zeit, als sie älter wurden, als ihre Liebe langsam erblühte und wie er sie schlussendlich verlor.
Die Geschichte lehrt uns, wie die Umgebung einen jungen Menschen formt und wie Lisbeth in die Arme eines Anderen getrieben wurde.
Denn der alte Mann war nur ein Dichter, ein Suchender, der nichts besaß außer seinen Träumen und seinem Herz. Und was zählt das schon? Was zählte es früher, was zählt es heute?
Und so sehen wir den alten Mann bis zum Schluss im Dunkeln sitzen, einsam und allein.
Doch vielleicht sollten wir die Geschichte noch einmal und genauer lesen? Vielleicht sollten wir Storms Gedicht noch einmal wie durch ein Brennglas sehen?
Denn unter der allzu glatten Oberfläche versteckt der Dichter eine zweite Botschaft. Er spricht nicht davon, wie es für junge Menschen üblich wäre, dass er schlafen muss, sie aber tanzen möchte. Sondern ganz bewusst dreht er die Worte um zu einem ich „möchte“ schlafen, Du aber „musst“ tanzen.
Du „musst“ tanzen, das ist das Geheimnis dieser Zeilen. Du „musst“ tanzen, du wirst gezwungen zu tanzen, gezwungen, ein fremdes Spiel zu spielen, immer und immer wieder.
Ich aber möchte schlafen. Ich entscheide mich bewusst für Schlaf und Traum, weit abseits eurer Welt und dem, was für euch zählt.
Und weigere mich, mich nach euren Melodien zu drehen.
Dadurch bekommt die Geschichte eine vollkommen neue Bedeutung, die vielleicht nicht einmal der alte Mann am Fenster verstand.
Denn was zählt in einem Leben? Was ist wirklich wichtig?
Ist es das, was wir erringen? Das, wofür wir Tag und Nacht uns hetzend mühen?
Wäre es nicht viel wichtiger zu schlafen, zu träumen, nach der eigenen Melodie sich zu wiegen und einsam im leeren Saal zu stehen?
Wer sagt, dass der alte Mann wirklich um Lisbeth freien wollte?
Vielleicht hat er sie absichtlich verloren? Vielleicht hörte er damals schon diese leise Stimme, die ihn fortzog, die ihn daran hinderte, in diesem Spiel, das sich „echtes“ Leben nennt, ein Schausteller zu sein.
Vielleicht ist es gar keine Trauer, die wir an ihm sehen. Vielleicht ist es einfach Wehmut, eine sanfte Erinnerung an einen Tanz, den er beobachten durfte und der noch heute sein Herz erfüllt, seine Träume und seinen Schlaf.
Aber ich möchte jetzt nicht mehr denken. Ich bin müde und möchte ruhn.
Mögen die anderen nur immer tanzen.