Was mir in unserer Kultur fehlt, ist der verzweifelte Kampf der Künstler gegen die Welt, in die sie geworfen wurden.
Ich sehe fast nur Autoren, die dem Publikum schmeicheln, klassische Musiker, die ihre Zeit an Crossover Projekte verschwenden oder Maler, die das auf die Leinwand klatschen, wofür am Ende des Tages das meiste Geld winkt.
Aber kaum jemanden geht es noch um das Kunstwerk an sich. Das Ziel fast aller Künstler heute scheint es zu sein, den Menschen zu gefallen und gutes Geld zu verdienen.
Auch die sogenannten Außenseiter, die paar Rebellen, die im Kampf gegen den Mainstream stehen und sich als weltabgewandte Künstler nur um ihre Werke kümmern, sind nur Apologeten desselben Spiels.
Denn sie verbreiten genau diese Attitüde auf Tausenden von Kanälen und hoffen, auf diesem Weg, erfolgreich und berühmt zu werden.
Versteht mich bitte nicht falsch. Natürlich muss ein Mensch von irgendetwas leben, natürlich ist Kunst auch ein Geschäft und die Mär vom sorgenlosen Poeten, der glücklich um seiner Kunst willen am Hungertuch nagt, ist weder wahr noch besonders originell.
Aber wenn Geld und Erfolg zum Hauptantrieb eines Künstlers werden, dann hat er seine Berufung verfehlt. Dann sollte er sein Werkzeug liegen lassen und lieber Bankdirektor werden, Kaufmann oder Skirennläufer.
Aber er sollte nicht versuchen, ein Sprachrohr des Schönen in unserer Welt zu sein.
Da ist es eine Wohltat, sich wieder bewusst zu machen, was den Künstler einst auszeichnete und sich in eine Geschichte zu vertiefen, die zeigt, wie es früher einmal war. Wie fruchtbar etwa der Boden zu Beginn des letzten Jahrhunderts schien, auf dem sich ein junger Mensch im Widerstreit zur Gesellschaft zu einem Poeten entwickeln konnte.
Am Beginn von Thomas Manns Erzählung „Tonio Kröger“ sehen wir einen einsamen Knaben. Von der Familie des Vaters her fest verwurzelt in der Gesellschaft und Denkart seiner norddeutschen Heimat, ist er durch das Blut seiner Mutter mit dem Kainsmal des vagabundierenden Künstlers gezeichnet.
Und dadurch ein Fremdling unter den Menschen seiner Welt.
Anhand einzelner Episoden erfahren wir die Geschichte eines zu früh Gezeichneten. Wir sehen seine Sehnsucht nach den Menschen, seine Sehnsucht nach Aufgehen in Kameradschaft und Liebe.
Und wir sehen, wie der Ruf der Kunst ihn wegzieht aus der Gesellschaft der allzu Angepassten. Weg von den Gewöhnlichen, den Ordentlichen, um deren Zuneigung er bitter einsam kämpft und von denen ihn trotz aller Mühe immer ein tiefer Abgrund trennen wird.
Egal, ob Tonio nun sein Herz an einen Freund hängt oder an ein schönes Mädchen, immer bleibt er der Fremde, der Unverstandene, der nicht in ihre Welt zu passen scheint.
Denn wie alle echten Künstler ist er der Sand im Getriebe der Wohlanständigen, der den Menschen einen Spiegel vorhält, in dessen wahren Schein sie nicht blicken wollen.
Und so wendet er sich schließlich ab und wandert einsam allein durch die Wüste seiner frühen Jahre, mit scharfem, wachem Blick, bis die letzten Fesseln von ihm abfallen und er einsam in die Fremde zieht.
Im Mittelteil sehen wir ihn als frühreifen Künstler, als müden Beobachter der Kultur, der im Gespräch mit einer befreundeten Malerin über sein Leben räsoniert. Der das Lied vom ewig unverstandenen Schöpfer singt, der in einer kalten Welt nicht existieren kann.
Und der dann, mit lachender Stimme, den Todesstoß erhält: „Die Lösung ist die, dass Sie, wie Sie da sitzen, ganz einfach ein Bürger sind. Nicht wahr, das trifft Sie hart, und das muss es ja auch. Und darum will ich den Urteilsspruch um etwas mildern, denn das kann ich. Sie sind ein Bürger auf Irrwegen, Tonio Kröger – ein verirrter Bürger.“
Worauf er zerschmettert antwortet: „Ich bin erledigt.“
Im letzten Teil kehrt er zurück in den Norden. Jahrelang suchte er sein Künstlertum durch den Kontakt mit der Welt seiner Mutter zu verfeinern und verleugnete dabei die Wurzeln, die ihn prägten.
Doch jetzt fährt er zu den Menschen und der Luft, die er so lange mied. Denn es ist die Welt seines Vaters, das Meer, die grauen, stürmischen Tage und der raue Klang der Stimmen, nach denen seine Seele ruft.
Denn wie jeder Mensch hat er Wurzeln, die tiefer reichen, als er glaubt. Und erst im Kampf gegen den vorherbestimmten Weg, in einem lebenslangen Bemühen um Freiheit und Wissen, kann man sich von den Fesseln des Alten befreien und schließlich etwas Neues schaffen.
Auch dem Tonio Kröger ging es so.
Er ging zurück in seine alte Heimat, und plötzlich spürte er seinen Herzschlag wieder und seine Sehnsucht blühte auf wie ein morscher Baum, der nach langer Zeit neue Triebe setzt.
Und so gelingt es ihm, Frieden zu schaffen zwischen dem Sturm seiner Seele und der Ruhe seiner Heimatwelt.
Um daraus ein wahrhaftig großes Werk zu erschaffen.