Unsere europäische Literatur beginnt mit dem Aufschrei des blinden Dichters Homer: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus.“
Dieser Zorn des Achilles sollte unser aller Zorn sein. Zorn darüber, in eine Welt geworfen zu sein die von Tag zu Tag hässlicher wird. Geistloser, menschenfeindlicher und in so weiten Teilen ohne Kultur und Wissen um ihre Geschichte.
„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus.“ 1
Wir sollten uns diesem Zorn stellen. Und wir sollten uns mit diesem Zorn der Welt stellen. Wir müssen wieder den Schmerz zulassen, die Wut, die Verzweiflung über das was wir Tag für Tag sehen. Eine kalte Welt, in der es nur mehr darum geht wer zu den Siegern zählt. Eine Welt, in der man alles mit beiden Händen an sich reißt: Unterhaltung, Fernsehen, Autos, Bildung, Musik, Menschen, Kunst und Kultur.
Wir sollten die Trauer darüber zulassen, dass wir in einer Welt leben, die uns unserer Menschlichkeit beraubt. Unseres Mitgefühls, unserer Freude und Leidenschaft. Und der Möglichkeit, an der Welt zu wachsen, zu leiden und sie zu lieben.
Aber vor allem sollten wir endlich Wut auf uns selbst spüren. Auf unsere Trägheit, unsere Maßlosigkeit und Dummheit. Auf unsere Angst davor, die Welt so zu sehen wie sie ist. Unsere Feigheit, uns eine bessere Welt vorzustellen und dafür einzustehen. Und damit wahrhaft erwachsen zu werden.
Wir sollten nicht mehr zulassen, dass wir unsere Menschlichkeit verlieren, dass wir unsere Kultur verlieren, ja, dass wir sogar die Möglichkeit verlieren, jemals wieder Teil an ihr zu haben.
Und dass wir das alles, Tag für Tag, für ein paar Glasperlen wegwerfen.
Und wir sollten uns, mit den Worten Homers im Herzen, gemeinsam auf den Weg machen. Um zurückzuholen, was wir verloren haben.
Als erstes sollten wir uns mit aller Kraft gegen die Frage stemmen, die heute von vielen gestellt wird: „Wozu sollen wir uns mit Kunst und Kultur befassen? Das ist anstrengend, nicht sehr unterhaltsam und für unser Leben nicht mehr relevant.“
“Wieso sollten wir uns denn mit Kunst beschäftigen?”
Dann wird meist noch angeführt, dass sich auch sonst niemand dafür interessiert. Wieso also sollte man so dumm sein und wertvolle Lebenszeit damit verschwenden? Wenn man sie doch viel besser einsetzen könnte indem man Geld verdient. Indem man vor dem Fernseher entspannt oder im nächstgelegenen Einkaufzentrum die neuesten Spielzeuge kauft.
Wozu also sollte man seinen Kopf mit nutzlosem Wissen füllen?
Doch der Fehler besteht schon in der Frage selbst. Es ist als würde sich ein Blinder überlegen, wozu er sehen soll. Farben sind zu nichts nütze, niemand sonst interessiert sich dafür, also wieso sollte gerade er die Anstrengung auf sich nehmen?
Denn in Wirklichkeit lautet die Frage nicht, wieso wir uns mit Literatur, Musik oder anderen Künsten beschäftigen sollen, sondern wieso wir glauben, darauf verzichten zu können.
Wieso verschwenden wir unsere Zeit mit unwichtigen Dingen, gehen blind durchs Leben und weigern uns zu lernen? Wieso verzichten wir darauf, uns selbst und die Welt wirklich kennenzulernen und unser Dasein mit dem Schönsten zu bereichern, das uns unsere Geschichte geschenkt hat?
Wie weit sind wir heute schon von der Feststellung entfernt, dass Dinge ihren Wert in sich tragen. Dass Schönheit einfach nur schön sein darf. Ohne den Wunsch sie zu besitzen. Ohne sie zu begrapschen und dadurch zu zerstören.
“Schönheit trägt ihren Wert in sich!”
Und wie die Schönheit trägt auch die Kunst ihren Wert schon in sich. Weil sie das Göttliche in uns berührt, an unsere Menschlichkeit erinnert und unser innerstes Wesen offenbart.
Und weil sie unser Leben verschönt.
Ohne der Frage nach ihrem Nutzen.
Einfach nur durch ihr Sein.
Doch wie macht sie das? Was geschieht dabei mit uns? Und sollten wir uns, im Widerstreit gegen die Welt, nicht wieder darauf einlassen?
Es sind vor allem die Literatur und die klassische Musik die uns beeinflussen.
Denn durch die Art, wie sie Gedanken und Gefühle ausdrücken, verändern sie unseren Geist, stärken unsere Gefühlswelt und helfen uns, die Welt besser zu verstehen.
Und dadurch haben sie die Kraft uns zu verwandeln. Unsere Vorstellung von der Welt und was es bedeutet, in ihr Mensch zu sein. Und damit im Endeffekt auch unsere Kultur.
Denn wenn wir durch Musik und Literatur gebildet sind, dann können wir wirklich unabhängig entscheiden in welcher Welt wir leben wollen. Und welche Welt wir hinterlassen.
“Shakespeare, Goethe, Dickens, Voltaire oder Th. Mann. Sie sind hier um unser Leben zu bereichern. Auch heute noch.”
Doch wenn wir uns heute umsehen dann merken wir, wie kalt es geworden ist. Die meisten Menschen sind nicht mehr fähig tief zu empfinden oder klar zu denken. Alle hängen ständig im Netz oder am Smartphone, laufen wie blind durch die Straßen und scheinen alles vergessen zu haben, was das Menschsein ausmacht.
Aber wie konnte es geschehen, dass ein Erdteil in dem Shakespeare wirkte, Goethe, Calderon oder Balzac, eine solche Verflachung seines Lebens zuließ?
Wie kann es sein, dass wir heute, da wir bemerken was geschieht, nicht aufstehen, die Trümmer aufnehmen und zusammensetzen?
Wie das geschehen soll?
Indem wir in einem ersten Schritt genau und differenziert denken und fühlen lernen.
Und das lernen wir nicht durch Fernsehen oder Internet, nicht in Schulen die nur noch Ausbildungsstätten sind und sicher nicht von Eltern, die sich fast vollständig dem Diktat unser gefühllosen Medien- und Leistungsgesellschaft unterworfen haben.
Sondern wir lernen es nur im Umgang mit den Meisterwerken, im Umgang mit den Gedanken und Kunstwerken all der Großen die vor uns gelebt haben.
Und aus diesem Grund müssen wir uns wieder mit Kunst befassen.
Für uns. Und für die Menschen, die nach uns kommen.